Kuratiert von Nikita Yingqian Cai
Mit Winter North Summer South stellt das Times Art Center Berlin ein Projekt des Künstlers Zhou Tao vor, das 2019 als Auftragsarbeit des Guangdong Times Museums entstanden ist. Nahezu zwei Jahre hat Zhou Tao in der Wüste Gobi verbracht, um die Obsession des modernen Men- schen, Wüsten in Lebensraum zu verwandeln, in Bildern einzufangen. Das Ergebnis ist ein facettenreiches Repertoire an schnell wechselnden Bildern: Sandstürme, Staubwolken, sich än- dernde Jahreszeiten, Porträts von Menschen, Pflanzen und Tieren, die gemeinsam in flüchtigen Ökosystemen leben, zurückgelassen als Überreste industrieller Eingriffe. Doch auch in diesem Ausnahmezustand wird die Erhabenheit der Natur durch menschliche Spuren belastet: Wind schlägt durch Pappelbäume, wirbelnder Sand schleift die Oberflächen riesiger Metallblumen, die verloren in der Wüste liegen – üppige rote Knospen, die achtlos zurückgelassen wurden.
Zhou Taos Filmkunst erinnert an die Ästhetik des liubai der chinesischen Literati. In der Literati-Malerei der Südlichen Schule wird ein Gefühl von Raum dadurch erzeugt, dass etwa Landschaften jeweils nur eine Ecke oder Seite eines Gemäldes füllen, während weite Teile der Bildfläche leer gelassen werden. In der Zeit der mongolischen Yuan -Dynastie, als sich viele chinesische Gelehrte aus dem Staatsdienst zurückziehen mussten, kamen die Literati häufig zusammen, um ihre Ideale zu kultivieren und ihre Weltsicht in Gemälden zum Ausdruck zu bringen. In der Malerei ging es nun nicht mehr um die Beschreibung der sichtbaren Welt. Die Kunstschaffenden versuchten, mit Hilfe der Malerei ihren Empfindungen, Gedanken und Gefühlen, ihren inneren Landschaften Ausdruck zu verleihen. Zhou Tao verwandelt in ähnlicher Weise innere Stimmungen und Empfindungen in Bilder, allerdings teilt er nicht die eskapistische Haltung der Literati. Für ihn ist der Akt des Filmemachens ein Weg, sich mit Realitäten auseinanderzusetzen, die durch die Technik massiv verändert wurden. Es geht ihm darum, direkte Verbindungen zu schaffen, und unsere Körper mit Hilfe der Kamera unmittelbar mit der Welt kurzzuschließen.
In der chinesischen Poesie gibt es eine Form der Rhetorik, die als yijue oder tonggan (Synästhesie) bezeichnet wird, als Fluss der Empfindungen. Zhou Tao entwirft in seiner dokumentarischen Assemblage eine Utopie aus Körpern und Bildern … „projected as the senses swap places, lights doing double duty for sounds and then vice versa … whose penseé sauvage, divested of abstractions, must use each singular perception to express the other, then appropriating the other in order to return on itself to shore up its own existence as representation.“¹
Was der narrative Apparat nicht erfassen kann, sind die Komplexität und Ambiguität der Schauplätze: der Horizont, der sich in den Augen einer Schildkröte spiegelt, eine Straßenüberführung aus Beton als Raum für Freizeitaktivitäten, ökologische Enklaven in einem Tagebau, die außerirdisch anmutende Kuppel eines urbanen Theaters, das idyllische Lied eines besetzten Platzes, ein Wasserreservoir, das zu Sand zerfällt, das Kind, die Pflanze, die Kuh, die Ziege, das Huhn und der Hund, die mit verrosteten Maschinen zusammenleben … In eben solchen Allegorien der Topographie versucht Zhou Tao, das organische Verschmelzen von Mensch, Maschine und Umwelt zu verdichten, um über planetare Realitäten zu sprechen, die mit lokalen Details und persönlichen Erinnerungen kontaminiert sind, und um es jenen Partikularitäten zu ermöglichen, ihre Wirkung im universellen filmischen Raum zu entfalten.
¹ Frederic Jameson, Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and Other Science Fictions (New York, 2005), 62.